Monday 4 May 2009

There is a city by the sea

... ein paar Gedanken zu Leipzigs 'nautischem Komplex'...


Leipzig liegt am Meer. Besser: Leipzig liegt zwar inmitten riesiger Landmassen, ist aber doch eine Küstenstadt. Alles Quatsch? Mag sein, aber man wird ja wohl noch träumen dürfen. So in etwa scheinen die Leipziger zu denken, während sie ihre Stadt mit nautischen Referenzen bestücken. Gleich beim Verlassen des Hauptbahnhofes geht es los: Seaside Park Hotel verkünden die Buchstaben auf dem Dach eines Hotels. Klar, hört sich einfach besser an als "Hotel am Bahnhof", was näher an der Realität dran gewesen wäre. Weiter im Süden, in der Karl-Liebknecht-Straße, ist das Hotel Seeblick. Allerdings ist es mitnichten ein Hotel, sondern eine angesagte Bar, und statt auf die See blickt man auf eine verkehrsreiche urbane Hauptstraße und lebendige Kneipenmeile. Noch ein Stück weiter südlich, am Connewitzer Kreuz, gab es mal einen Plattenladen namens Seemannsglück. Eine andere Kneipe schmückt sich mit dem Namen Anker, das hiesige Stadtmagazin wiederum heißt Kreuzer und vergibt in seinen Musikrezensionen Schiffchen statt der sonst üblichen Sterne. "Guck mal: die neue Morrissey hat 4 Schiffchen bekommen." Ein Satz, der kauzig anmutet, in Leipziger Gesprächen aber durchaus zu hören sein wird.

Richtig nautisch wird es im ehemaligen Industrieviertel Plagwitz. Kein Wunder, denn hier findet man tatsächlich viel Wasser: Elster und Luppe fließen an Plagwitz vorbei, und mitten durch das Viertel verläuft der Karl-Heine-Kanal, der an einigen Stellen fast schon für venezianisches Flair sorgt. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis auch hier eine passende Kneipe eröffnete: das Kap West - allein der Name lässt tief blicken. Das Haus selbst erinnert, wenn man die Phantasie ins Rollen bringt, an den Bug eines Schiffs, und die kurz nach der Eröffnung kursierenden Flyer waren so gestaltet, dass einem schon beim Anschauen eine Brise frischer Seeluft um die Nase wehte. Das bekannteste Kiez-Original ist der fast schon legendäre Plagwitzer Seemann: in Matrosenkluft gewandet, die Kapitänsmütze stets auf dem Kopf und mit Megaphon in der Hand, spaziert er durch Plagwitz, während aus seinem Ghettoblaster Seemannsweisen erklingen. Mein Personengedächtnis mag mir hier einen Streich spielen, aber ich habe den Verdacht, dass sogar zwei verschiedene Seemänner im Viertel ihre Runden drehen, einer mit Vollbart, einer mit Schnauzer. Die These muss aber noch hieb- und stichfest bewiesen werden. Aber egal ob ein Kapitän oder zwei, Hafenflair kommt auf, keine Frage.

Leipzig scheint eine Art nautischen Komplex zu haben, der nicht nur mit den riesigen Seen südlich der Stadt zu tun hat, sondern auch mit dem alten unerfüllten Traum einer schiffbaren Verbindung zwischen Elster und Saale, und damit indirekt zur Elbe und schließlich zur Nordsee. Dass der heutige Karl-Heine-Kanal nie fertig wurde (ein kleines Stück fehlt bis zur Saale), hindert die Leipziger indes nicht daran, den alten Traum ("von der Elster bis zur Alster") leise, und manchmal auch etwas lauter, weiterzuträumen. (Gelegentlich verkünden Lokalblättchen Pläne, das letzte Stück des Kanals noch zu vollenden.) Die Sehnsucht zum Meer ist jedenfalls immer noch präsent in Leipzig. Teilweise sogar so sehr, dass man sich hin und wieder fühlt, als wäre man tatsächlich an der Küste. Genau das mag ich an dieser Stadt: dass sie nicht alle Sehnsüchte erfüllt, es aber schafft, immer wieder an ihnen zu kitzeln.

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